Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet…

Resonanz auf die Reaktionen zum Fall des Gütersloher Tütenbabys

Triggerwarnung!

Tütenbaby, Tütenbaby, Tütenbaby.. es scheint mir, wie die Heraufbeschwörung eines dämonischen Wesens, wenn man aktuell Medienberichte und die Resonanzen darauf im Internet liest. Vor drei Wochen wurde in Gütersloh ein ausgesetztes Neugeborenes gefunden und seitdem ist sie bisher ohne Spur: Die Suche nach der Mutter. Seit zwei Wochen lese ich, höre ich, sehe ich kaum noch etwas anderes als die Berichte um das ungewollte Kind und schweige. Schweige, um nicht wütend zu werden. Nein, nicht auf die Mutter, sondern auf die Menschen, die sie verurteilen. „Nicht verhüten können und dann nicht mit den Konsequenzen leben wollen“ oder „Hoffentlich wird dieses Kind niemals seiner garstigen Mutter begegnen“ oder „Man sollte ihr eine Tüte über den Kopf ziehen und sie ersticken“ lese ich mit großer Abscheu in den sozialen Medien. Die digitale Hetzjagd ist in vollem Gange. Anstatt mit faulem Gemüse werfen wir heute mit bösartigen Verwünschungen auf Menschen, die nicht unserer Meinung entsprechen. Lassen uns mitreißen von der Ekstase, endlich wieder einen Sündenbock zu haben und unsere eigenen Fehler klein erscheinen zu lassen.

Und dann blicke ich auf unsere Arbeit. Dieses so sensible Thema. Denke an die Frauen, die wir beraten. An die Erfahrungsberichte unserer Partnerorganisationen. Denke an die vielen Mädchen da draußen, die Tag für Tag Missbrauch und Gewalt von Peinigern erfahren, die viel, viel, viel zu oft aus der eigenen Familie kommen. Denke an die Frauen, die tapfer das Ergebnis einer solchen Verbindung austragen, großziehen und zu lieben versuchen. Die sich vor der Gesellschaft rechtfertigen müssen, ein Kind ohne Vater zu haben (Sicher aus einer alkoholisierten Nacht, ein One-Night-Stand, bei dem sie zu dumm zum Verhüten war…). Denke an die Kinder, die nicht verstehen, warum es so kalt ist, wenn ihre Mutter sie in die Arme schließt. Warum Tränen fließen, wenn sie Gute-Nacht-Geschichten vorliest. Weshalb Mamas Augen leer sind, wenn sie lächelnd dabei zusieht, wenn ihr Kind zum ersten Mal stolz eine Schleife bindet. Und denke darüber nach, ob die gesuchte Mutter nicht vielleicht eine von ihnen sein könnte.

Nein, ich heiße es nicht gut, sein Kind in einer Plastiktüte auf einem Parkplatz abzulegen, aber ich versuche zu verstehen, warum sie es getan hat und ich bin für ihren Sohn dankbar. Dankbar, dass sie ihn an einem Ort ablegt hat, wo man ihn finden würde. Dankbar, dass sie ihn nicht erdrosselt, in Beton eingegossen oder mitten im Wald ausgesetzt hat. Vielleicht hätte sie auch die eine einzige Babyklappe in Gütersloh genutzt, wenn diese zentraler und bekannter wäre. Ich denke, sie hat sein Leben gewollt, ihm gewünscht, dass er es einmal besser hat, dass man ihn finden und pflegen würde. Und danach ist sie vielleicht zurückgekehrt in eine Familie, in der ihre eigene Mutter nicht sehen will, was ihrem Kind Tag für Tag widerfährt.

Hinter verschlossenen Türen passiert vieles, das wir uns nicht zu denken wagen. Dinge, die wir gar nicht sehen möchten und daher gar nicht in Betracht ziehen, wenn wir über diese Mutter sprechen, die aus der Sicht der Meisten ihr Kind zu einem schlechten Leben verurteilt hat. Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. Obwohl ich nicht religiös bin, kommt mir eben dieser Bibelvers (Matthäus 7,1) in den Sinn. Denn zu viele haben ihr Urteil gefällt und könnten durch ihre Blindheit und ihren Hass ebenso verurteilt werden. Denn weshalb sollte sich die Mutter nach dieser Hexenjagd, nach den online geäußerten Morddrohungen und Anfeindungen noch trauen, sich zu offenbaren und Hilfe zu suchen? Ich verstehe diese Gesellschaft nicht.

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Dieser Beitrag geht außerdem den lokalen Tageszeitungen als Leserbrief zu.

An dieser Stelle möchte ich auf die Aktion “Güterslohs Goldjunge” hinweisen:  http://www.die-glocke.de/lokalnachrichten/kreisguetersloh/guetersloh/Glueckwuensche-fuer-Guetersloher-Goldjungen–27211310-cc33-4832-8c11-799f16091379-ds