Du verlässt ihn nicht einfach: Eine Schlechte-Nacht-Geschichte

Im Zuge unseres Twitter- und Blog-Aufrufs haben wir einen Beitrag erhalten, den wir hier gerne veröffentlichen möchten. Die Autorin möchte ungenannt bleiben. Wir danken ihr aber für ihren Mut und das uns entgegengebrachte Vertrauen.

Triggerwarnung: Der folgende Artikel beschreibt die Erfahrungen einer Frau mit sexualisierten Gewalterfahrungen.

Du verlässt ihn nicht einfach: Eine Schlechte-Nacht-Geschichte

Erfahrungsbericht einer Überlebenden von sexualisierter Gewalt

Eigentlich begann meine Geschichte wie so viele andere auch. Zaghafte Blicke, Schmetterlinge im Bauch und alles war rosarot. Damals trennten uns 600 km, er studierte im Süden, ich machte gerade mein Abitur in Westfalen. Er kam von hier, besuchte regelmäßig seine Mutter, die restlichen Wochenenden verbrachten wir in dieser viel zu kleinen chaotischen Studentenbude im schlechtesten Viertel der Stadt. Aber es war in Ordnung, alles war rosarot.

Erzwungene Entscheidungen
Als mein Abschluss näher rückte kam die große Frage: Wie geht es weiter? Er war mein Fels in der Brandung, dieser starke Mann, fast zwei Meter groß, kräftig gebaut. Die Heimat zu verlassen lag mir fern. Dann begannen die Drohungen. Er würde sich trennen, wenn ich nicht zu ihm zöge, eine Fernbeziehung wäre nicht mehr tragbar. Die Angst verlassen zu werden schien mir schlimmer als mein drückendes Bauchgefühl. Ganz leise wisperte es: „Tu es nicht, du wirst untergehen!“ Die Sachen wurden gepackt, ich zog aus das Fürchten zu lernen. Innerhalb weniger Wochen wandelte sich alles. Ich brach den Kontakt zu Freunden ab und warf alle Zukunftspläne über Board. Für meine Freunde war klar: in meinem neuen Leben war für sie kein Platz mehr. In sozialen Medien schrieb ich von tollen Ausflügen mit neuen Freunden, die es in Wirklichkeit nicht gab. Ich war allein. Mein Traummann war mein schlimmster Albtraum geworden. Freunde wurden verboten, hausfrauliche Pflichten zu meinem Existenzgrund erklärt. Zustimmung, Loyalität, Sex… er holte sich was er wollte, notfalls mit Gewalt.
Wie oft stand ich dort, den Rucksack mit dem Nötigsten in der Hand und wollte gehen. Und dann? Wohin? Mitten in der Fremde, ohne Geld, ohne Freunde? Natürlich hätte ich meine Eltern anrufen können und dann? Ein kleiner Streit, das hat jedes Paar mal. Stell dich nicht an, jeder hat seine Höhen und Tiefen. Man erzählt doch nicht, dass es mehr ist als ein Streit, oder? Was sollen die Leute denken? Die Tage zogen sich, wurden zu Wochen, Monaten und mehr.

Nacht des Wandels
Es war Silvester, wir feierten mit Menschen, die hätten Freunde sein sollen. Er kündigte laut an, dass das neue Jahr eine Festigung unseres Bundes bringen würde. Mir wurde schlecht, die Fassade nach außen strahlte vor Glück. Zwei Tage später setzte er mich mitten in der Nacht vor die Tür. Ich hatte mich zu sehr gewehrt, hatte mich getraut, hatte ihn körperlich und seelisch verletzt.
Die Flocken fielen sanft vom Himmel, das Licht der Laternen kleidete die Straße in ein gelbes Gewand. Ohne Jacke stand ich dort, zitterte am ganzen Leib und spürte die Kälte nicht. Es war vorbei. Wie in Trance verstrichen die nächsten Stunden, da waren ein geliehenes Handy, eine mitternächtliche Zugfahrt mit verständnisvollen Schaffnern (danke!) und die Umarmung einer Mutter, die ihr weinendes Kind abholte.

Die Zeit danach
Meine Eltern erfuhren nie was genau passiert war, für sie war es eine andere Frau, ein großer Streit und der nächtliche Rausschmiss. Dennoch halfen sie mir beim Start in ein neues Leben. Die Depressionen und Panikattacken machten es nicht leicht. Er war immer präsent, jeder große Mann, jeder brünette Mann, jeder bärtige Mann rief die Angst empor. Und als ich glaubte mich gefangen zu haben, begann es erneut. Anrufe, SMS, E-Mails. Erst liebevolle Bitten um meine Rückkehr, auf mein Nein hin drohender, beängstigender. Ich löschte meinen E-Mail-Account, änderte meine Telefonnummer und … begann zu reden. Ich habe es meinen Eltern bis heute nicht erzählt, aber meinem Bruder als er seine Freundschaft zu ihm verteidigte; seiner Mutter, als sie mir sagte, dass ich einen so tollen Mann wie ihren Sohn nie verdient hatte; fremden Frauen, die ich bei der Arbeit kennenlernte; meinem jetzigen Lebenspartner.

Trau dich!
Meine Geschichte ist eine Schlechte-Nacht-Geschichte von vielen. Es gibt sie in hunderttausenden Versionen. Manche beginnen als Albtraum im Kinderzimmer, andere sind eine Begegnung auf der Straße und wieder andere verbergen sich hinter unserem größten Glück. Ich habe begonnen meine Geschichte zu erzählen. Und ja, es gibt viele Reaktionen auf die du, liebe Leserin, dich einstellen musst. Es wird Menschen geben, die sagen: „Ich würde ihn einfach verlassen!“ Sicher hast du die gleiche Erfahrung gemacht wie ich: Du verlässt ihn nicht einfach. Loyalität, Angst, Scham, Stolz… es gibt so vieles, was diesen Schritt nicht einfach macht. Aber wenn du es geschafft hast, dann geht eine neue Sonne für dich auf.

Ob ich ihn danach wiedergesehen habe? Ja, in einer Bar, etwa 16 Monate nach unserem letzten Kontakt. Ich gebe zu, ich habe fluchtartig das Lokal verlassen. Aber nicht aus Angst vor ihm sondern aus Angst vor meiner eigenen Courage. Wenn du den entscheidenden Schritt gemacht hast, wirst du eine Stärke fühlen, die du nie in dir vermutet hast. Dabei ist sie schon immer da. Tief in dir. Trau dich, du kannst das. Ich glaube an dich!